Erlebnispädagogik kann ein wichtiger Baustein für die umfassende Erziehung eines Menschen sein. Ebenso wie die Reformpädagogik entstand sie als Kontrastprogramm zum klassischen Bildungssystem. Sie unterstützt die Arbeit in zahlreichen Heimen, Schulen und sozialpädagogischen Einrichtungen und ist selbst in der Wirtschaft und im Management zunehmend gefragt.

Die Erlebnispädagogik arbeitet mit Erlebnissen, die über das Alltägliche hinausgehen, die starke Emotionen in uns hervorrufen, eine besondere Wirkung auf uns als Menschen haben oder uns sogar auf irgendeine Weise herausfordern. Diese Erlebnisse sind intensiv, sie prägen uns und tragen das Potential in sich unsere Ansichten und Verhaltensweisen zu überdenken und unseren Charakter zu formen.

Die Waldorfpädagogik und die Erlebnispädagogik eint der Gedanke, die Heranwachsenden individuell und ganzheitlich zu fördern. Bereits Rudolf Steiner hat sich für einen erlebnisreichen Unterricht eingesetzt. Mit den vielfältigen kreativen und praktischen Angeboten bieten Waldorfkindergärten- und Schulen bereits eine ganze Reihe Erfahrungen, an denen ihre Schützlinge wachsen können. Die Erlebnispädagogik erweitert dieses Denken noch um die Komponente des Abenteuers. Wie der Boom der Outdoor-Bewegung zeigt, ist das Bedürfnis nach einem Abenteuer in der heutigen Zeit vielleicht besonders groß.   

Der Bauingenieur und Erlebnispädagoge Jens Brand hat daher ein Kletterferienlager ins Leben gerufen, um den Heranwachsenden solche besonderen und prägenden Erlebnisse mit auf dem Weg zu geben. Für uns als waldorfinteressierte Eltern und Pädagogen lohnt es sich das Ferienlager für ein paar Tage zu begleiten und unseren Horizont für neue Möglichkeiten in der Pädagogik zu öffnen.

Die Reise beginnt

Es ist Montagmorgen. Um 7 Uhr stehen die Kinder, Jugendlichen und Betreuer bereits im Kreis zum Morgensport. Jeder turnt eine Übung vor, die anderen machen mit. Die erste Nacht in den Zelten war kurz, doch verschlafen ist hier niemand. Heute beginnt schließlich das Kletterferienlager, welches nun schon zum 5. Mal auf dem Bauhof von Jens Brand und seinem Team von Build a Rock stattfindet.

Der Name ist Programm, denn hier im Cottbusser Norden entstehen künstliche Kletterfelsen. Jens Brand hat seine Kletterleidenschaft aus seiner Heimatstadt Dresden mit nach Cottbus gebracht. Da die Vorzüge der Lausitz eher in der Weite als in der Höhe liegen, begann er in den 1990er Jahren damit aus aufgetürmten Abrissplatten und Spritzbeton eigene Kletterfelsen zu bauen. Inzwischen stehen die Felsen von Jens Brand in ganz Deutschland.

Doch auch verschiedenste Auftragsarbeiten werden hier angefertigt. Eine Auswahl der Möglichkeiten kann man auf dem Bauhof bewundern. So erinnert das Bürogebäude an Häuser von Friedensreich Hundertwasser und Antonio Gaudí. Es gibt Figuren, die den Moai der Osterinseln nachempfunden sind, versteinerte Bäume, chinesische Drachen, mittelalterliche Burgen und Märchenschlösser im Kleinformat. Es gibt zahlreiche Tierfiguren, das Fahrzeug der erfolgreichen Zeichentrickserie Familie Feuerstein samt Höhle und Mammut. Das Gelände ist fantasievoll und kreativ. Es ist ein kleines, verrücktes Abenteuerland und die Erschaffer sind wahre Künstler.

Dieser Ort eignet sich perfekt für ein Kletterferienlager, wird er doch um eine Badestelle und eine Ziegenweide ergänzt. Die Pflege der Tiere übernehmen in diesen Tagen die Kinder und Jugendlichen. Sie kümmern sich auch um die Versorgung der Gruppe, beschaffen Wasser, unterstützen die Betreuer bei sämtlichen Küchentätigkeiten oder halten das Lagerfeuer am Lodern. Es ist Ende Juli. Ein Feuer zum Aufwärmen wird nicht wirklich gebraucht. Doch eine Feuerstelle zu hüten ist auch eine besondere Erfahrung und Rückbesinnung an längst vergangene Zeiten. Aus anthropologischer Sicht soll das Hüten des Feuers sogar eine wesentliche Rolle für die Menschwerdung gespielt haben. Und am Abend gibt es schließlich keinen besseren Ort zum Zusammensein, Geschichtenerzählen oder Musizieren. Die gelebte Gemeinschaft, die gegenseitige Verantwortung, dies sind wichtige Erfahrungen, die das Kletterferienlager den Kindern und Jugendlichen mitgeben möchte. „Jeder hat eine Aufgabe, eine Wichtigkeit, seine Rolle in der Gemeinschaft und jeder trägt etwas dazu bei, dass es funktioniert“, sagt Jens Brand.

Nach mehreren Jahren Kletterferienlager haben sich auch schon so einige Rituale entwickelt. Geweckt werden die Kinder und Jugendlichen z.B. allmorgendlich zu den Klängen einer Mundharmonika. Vor jedem Essen wird ein Lied angestimmt und nachdem der Letzte mit dem Essen fertig ist, fassen sich alle bei den Händen und danken gemeinsam den fleißigen Köchen.

Auf zum Kletterfelsen

Nach dem gemeinsamen Frühstück geht die Gruppe das erste Mal klettern. Der ausgehöhlte Kunstfelsen auf dem Gelände ist … Meter hoch. An den Innen- und Außenseiten gibt es Kletterrouten mit verschieden Schwierigkeitsgraden. Es gibt Möglichkeiten zum Strickleiterklettern, dem Klettern an Kunstgriffen und Naturstrukturen oder zum Bouldern. Während das Bouldern das Klettern in Absprunghöhe meint, bei dem es allgemein wenig Verletzungspotential gibt, geht es beim klassischen klettern hoch hinaus. Dabei ist das Absichern mit einem Seil natürlich essentiell. Am Vortag wurden daher die Knoten und Seilkommandos geübt. Viele der Kinder und Jugendlichen haben schon Erfahrungen im Klettern. Ihnen gehen die Sicherheitsvorkehrungen leicht von der Hand. Den unerfahreneren Schützlingen schauen die Betreuer natürlich stets über die Schulter. Immer wieder hallen ihre Erinnerungen an die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen durch den Raum. Beim Klettern geht es hoch hinaus, da ist es eine Kunst auf dem Boden zu bleiben und sich den Risiken bewusst zu sein. Ein Aufstieg ist erst dann vollendet, wenn auch der Abstieg geglückt ist.

Die Stimmung ist angeregt und voller Vorfreude. Gleich geht es los. Die ersten Routen sind etwas schwieriger zu meistern, doch nachdem sich alle warmgeklettert haben, gibt es kein Halten mehr. Jede Route wird ausprobiert, jede neue Herausforderung angenommen. Die Kletterkinder motiviert vor allem der Spaß an der Bewegung.

Was bei Ihnen leicht aussieht, ist jedoch eine große Herausforderung für Körper, Geist und Emotionen. Wer es selbst einmal ausprobiert hat, weiß wie kraftvoll der Klettersport ist. Die Felsen sind schroff. Die Finger schmerzen. Man stellt sich seinen Ängsten und stößt irgendwann an seine Grenzen. Doch dies macht, nach Jens Brand, ja gerade auch den Reiz des Kletterns aus: „Es ist die Ambivalenz zwischen Angst, den eigenen Grenzen und der Neugier des Entdeckens, was nach dem nächsten Absatz, dem nächsten Griff, kommt.“

Redet man mit ihm übers Klettern, kommt man schnell ins Philosophieren. Immerhin geht es beim Klettern darum mit jedem neuen Schritt Probleme und Aufgaben zu lösen. Es geht um die Frage, was ich tun muss, um weiter zu kommen, darum kreativ mit einer Situation umzugehen, aber auch die eigenen Grenzen anzuerkennen und gegebenenfalls das Scheitern zu akzeptieren. Das Klettern wird somit ein Gleichnis für das Leben selbst.

Jens Brand wählt seine Worte weise und mit Bedacht. Derartig reflektiert kann wohl nur jemand reden, der schon viel erlebt hat. Tatsächlich hat ihn seine Kletterleidenschaft schon in die Gebirge der Welt hinaus getragen- in den Kaukasus, Nepal oder nach Alaska. Der Alpinismus ist aber nochmal eine ganz andere Sache als das Sportklettern hier im Ferienlager. Die Erfahrungen sind jedoch vergleichbar.

Schließlich ist das einwöchige Ferienlager für alle Beteiligten eine intensive Zeit. Sie verlassen ihre Komfortzone, lernen sich zu reduzieren und auf das Wesentliche zu beschränken. Diese Zeit bringt auch ein Naturerlebnis mit sich, wie es im alltäglichen Leben so kaum noch möglich ist. Die Heranwachsenden treten in Verbindung mit der Erde. Alles ist viel ursprünglicher und wird intensiver wahrgenommen. „Man wird achtsamer mit sich selbst und den Dingen der Welt- den Tieren, Pflanzen und der Erde gegenüber.“, so Jens Brand.

All diese Erfahrungen werden natürlich nochmal intensiviert, wenn die Gruppe im Laufe der Woche den Bauhof verlässt und zu einer Exkursion ins Elbsandsteingebirge aufbricht. Die Gemeinschaft in der Gruppe, die Naturerlebnisse und das Abenteuergefühl sind hier noch ausgeprägter und unmittelbarer. Sie erklimmen die Naturfelsen, schlafen unter einem Felsvorsprung und erleben wie dunkel die Nacht fernab der Stadt tatsächlich ist. 

Doch zurück zum Bauhof. Am Nachmittag können die Heranwachsenden hier zwischen verschiedenen Aktivitäten wählen. Es gibt einen Zirkusworkshop, Stockfechten, Basteln, Knobelspiele oder das Spiel die Werwölfe von Düsterwald. Die Kletterkinder können sich hiervon ein Angebot aussuchen oder wieder klettern gehen. Kein Tag verläuft dabei gleich. Heute entscheidet sich die Mehrheit der 17-köpfigen Gruppe wieder für das Klettern. Diesmal geht es in die Halle mit einer 9 Meter hohen Kletterwand. Wenn es draußen zu heiß oder verregnet ist, ist dies eine schöne Alternative zum Kunstfelsen draußen.       

Vom Konsumenten zum autonomen Menschen

So vergehen die Tage. Was in der Welt außerhalb des Kletterferienlagers geschieht steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Alle Beteiligten vergessen ihre Smartphones. Das Kletterferienlager ist somit auch ein Stück Entschleunigung und Zu-sich-Selbst-Kommen. Nicht jede Minute ist verplant und so müssen die Heranwachsenden auch lernen mit Langeweile umzugehen, was in einer erlebnis- und leistungsorientierten Gesellschaft nicht immer leicht ist. Doch diese Zeit ist wichtig, um zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen, zu reflektieren und die eigenen kreativen Kräfte zu entfalten.    

Am letzten Tag sind die Eltern üblicherweise zu einer Präsentation eingeladen. Die Kinder singen ein eingeübtes Lied vor, führen akrobatische Kunststücke auf oder zeigen ihnen wie toll sie schon klettern können. In diesem Jahr fällt dieser Abschluss des Kletterferienlagers jedoch aufgrund der Corona-Pandemie aus. Die Eltern holen ihre Kinder ab und müssen sich lediglich mit den Erzählungen begnügen.  Bei all den sportlichen Aktivitäten, Naturerfahrungen, Herausforderungen und dem Gemeinschaftsleben ist Jens Brand vor allem Eines wichtig. Ihm geht es darum „möglichst keine Konsumenten zu erziehen, sondern eigenverantwortliche, autonome Menschen, die in der Welt auf festen Füssen stehen. Die eine innere Stärke haben aus dem Bewusstsein heraus, dass sie was können, dass sie Talente haben.“ Tatsächlich hat er den Eindruck, dass die Kinder und Jugendlichen aus dieser Woche gereift herausgehen. Jeder nimmt sich etwas für sich mit und kann diese Erfahrungen in seinem Gedächtnis wie einen Schatz für das Leben speichern. „Und da ist eine Woche wunderbar geeignet, um solche Schätze zu sammeln.“

Verfasst von Manuela Peter (Waldorf Cottbus e.V.)